Genava (Genf)

Über Genf in römischer Zeit ist einiges bekannt. 


Es ist wohl ein Kastell geblieben und diente dem Durchgangsverkehr als grosse Pferdewechselstation.


Genf war in der Keltenzeit eine befestigte Grenzstadt der Allobroger gegen die Helvetier. 


Der erstmals in Caesars De bello Gallico bezeugte Ortsname (58 v. Chr. Genava) wird herkömmlich auf keltisch genaua ‹Mündung› (vgl. walisisch genau ‚Mund‘) zurückgeführt, wie ähnlich Genua und Arguenon. Da Genf nicht an einer Mündung, sondern an einem Abfluss liegt, wurde als Alternative vorgeschlagen, den Namen von indogermanisch *genu-, *gneu- ‹Knie, Ecke, Winkel› herzuleiten.

Genava als Tor zur Provence

Diese schöne Vorstellung vermittelt, etwas überspitzt gesagt, die grosse Schau, die das Musée d’Art et d’Histoire (MAH) in Genf dem altrömischen Alltag an der Rhone widmet. Auf den von Platanen gesäumten und von Säulengiebeln überragten Plätzen von Carouge oder in den Weingärten des Mandement fühlt man sich in der Tat ein wenig wie im Süden Frankreichs. 


Neben solch atmosphärischen Verwandtschaften existierten seit dem Altertum vielfältige Beziehungen zwischen der Provence und der Region Genf. Beide Gegenden gehörten einst zur zwischen 125 und 118 v. Chr. von den Römern eroberten Gallia Transalpina.


Um die wichtige Provinz vor den anstürmenden Helvetiern zu schützen, eilte Gaius Julius Caesar 58 v. Chr. mit seinem Heer ins allobrogische Grenz- und Hafenstädtchen Genf. Dort liess er die Rhonebrücke zerstören und eine fast zwanzig Kilometer lange Mauer bauen. Nach dem gallischen Krieg entwickelte sich Genf, das erstmals in Caesars «Commentarii de bello Gallico» als Genua (oder Genava) Erwähnung fand, zu einem Scharnier des Handels mit den neu eroberten nordöstlichen Teilen des Reiches.

 

Gleichwohl wurde statt Genf das benachbarte Nyon mit den Privilegien einer römischen Kolonie ausgestattet – eine Ehre, die auch Arelate, dem heutigen Arles, zuteilwurde. Dort liess Caesar Veteranen der 6. Legion ansiedeln. 


Unter Augustus umgab sich die Stadt mit Mauern und schmückte sich mit Monumentalbauten wie Theater und Forum, zu denen später ein Amphitheater und ein Circus hinzukamen. Seine grösste Zeit erlebte das gallische Klein-Rom in der Spätantike, als es unter Kaiser Konstantin und seinen Nachfolgern zu einem Zentrum des Reichs aufstieg, Bischofssitz wurde und 314 das Konzil von Arles beherbergte.

Triumph der Unterwasserarchäologie

Die überreichen Unterwasserfunde liessen die Bestände des Museums von Arles, das erst 1995 einen vieldiskutierten Neubau von Henri Ciriani bezogen hatte, dramatisch anwachsen. Viele Objekte, die eigens für die Ausstellung aufgearbeitet wurden, sind deshalb in Genf erstmals zu sehen – genauso wie die Mehrzahl jener arlesischen Fundstücke, die sich schon seit dem 19. Jahrhundert im Besitz des MAH befinden.

Mit Gefangenendarstellungen wie der in halber Lebensgrösse gehaltenen Bronze eines unterjochten Galliers, die bis 2007 in der Rhone schlummerte, vergegenwärtigt die Schau zunächst die Eroberung und die tiefgreifende Romanisierung der 27 v. Chr. in Gallia Narbonensis umbenannten Provinz. Viel Aufmerksamkeit erhält danach der Strom als Handelsweg – und als Schatzkammer. Der Kolossalkopf einer Göttin oder der Neptun-Altar, auf die man 1884 im Ausfluss des Genfersees stiess, oder zwei reichverzierte, 1862 nördlich von Arles in der Rhone entdeckte Silberschalen bezeugen, dass das Wasser grossartige Zufallsfunde freigab – und noch immer gibt. Die prächtige Kleinbronze eines Herkules kam 2010 ganz unerwartet ans Licht: am Strand von Les Saintes-Maries-de-la-Mer.

 

Erst die systematische archäologische Durchleuchtung der Rhone im Bereich des antiken Hafens von Arles brachte dann aber eine Vielzahl von Skulpturen und Gebrauchsgegenständen zutage – sogar einen Kassenschrank und ein völlig intaktes Wagenrad. Als für die Forschung besonders ergiebig erwiesen sich die Fragmente von Fluss- und Hochseeschiffen sowie ein perfekt konservierter, 31 Meter langer Lastkahn. Mit solch ultraflachen Schiffen wurden die aus dem ganzen Mittelmeerraum nach Arles gebrachten Güter flussaufwärts transportiert, darunter Stückgut wie die Genfer Amphoren mit Resten von Öl, Wein oder Fischsauce, aber auch Kostbarkeiten wie zwei aus Marmor gefertigte Standbilder des Apoll und des Herkules. Sie wurden 2011 in einer römischen Villa von Martigny ausgegraben.

Parade der Kostbarkeiten

Anschliessend rückt Jean-Claude Golvins akribisch gemalte Rekonstruktion von Arles, auf der die schachbrettförmig angelegte Kolonie, der Flusshafen und die Pontonbrücke zwischen beiden Quartieren zu erkennen sind, den altrömischen Städtebau in den Fokus. Man erfährt etwa, dass reiche Händler und Unternehmer im rasterförmig geplanten Viertel hinter den Hafenanlagen ihre Villen bauten, in denen man auf bedeutende Mosaike stiess. Zu den schönsten zählt eine Darstellung von Europa mit dem Stier, die in Genf zusammen mit Schmuck, Geschirr und Mobiliar eine Vorstellung vom Dasein der gehobenen Schichten in Roms erster gallischer Provinz vermittelt.

 

Von der verfeinerten Kultur im öffentlichen Raum zeugen die Venus von Arles, die einst die Bühnenwand des Theaters schmückte, oder die Marmorbüste von Caesar, deren Auffinden in der Rhone 2007 als archäologische Sensation gefeiert wurde. Sollte sie wirklich Caesar darstellen, wäre sie das einzige bekannte Porträt, das zu seinen Lebzeiten geschaffen wurde. Die umstrittene Zuschreibung können die Besucher anhand der ausgestellten Caesar-Münzen überprüfen – die Wangenfurchen, die wulstigen Halsfalten und der stark hervortretende Adamsapfel sind bei der Büste und auf den Münzporträts tatsächlich identisch.

 

Ähnlich viel Platz wie dem Stadtleben gewährt die Schau der Religion und dem Totenkult. In Arles blieben besonders viele hervorragende Sarkophage erhalten, darunter der Prometheus-Sarkophag, in dem später Bischof Hilarius von Arles beigesetzt worden sein soll. Dieses Meisterwerk wurde ebenso vom Louvre ausgeliehen wie die Venus von Arles oder der geradezu modern wirkende Kopf eines jungen Satyrs. In der suggestiven Genfer Inszenierung vereinen sich diese Kostbarkeiten jetzt für kurze Zeit zusammen mit den spektakulärsten Neuentdeckungen aus Arles und einigen Glanzlichtern aus der Romandie zu einer gültigen Gesamtsicht des antiken Lebens an der Rhone.